Streitfall Nano-Essen

Künstliche Nanopartikel sollen Lebensmittel haltbarer und gesünder machen, ihr Ruf leidet allerdings durch wiederkehrende Vorwürfe über Gesundheitsrisiken.

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Von
  • Elgar Fleisch
  • Christian Flörkemeier

Künstliche Nanopartikel sollen Lebensmittel haltbarer und gesünder machen, ihr Ruf leidet allerdings durch wiederkehrende Vorwürfe über Gesundheitsrisiken. Ab 2012 sollen sie auf Produkten deklariert werden.

Wer beim Kochen zum Salzstreuer greift, erwartet, dass die weißen Kristalle gleichmäßig ins Essen rieseln. Feuchte Klümpchen sind unerwünscht, weil sie die Löcher im Streuer verstopfen. Deshalb hat der Industriekonzern Evonik winzige Nanopartikel aus Siliziumdioxid entwickelt, die das Verkleben verhindern. Die mit bloßem Auge unsichtbaren Teilchen erledigen im Salzstreuer das, wofür man früher nach Großmutters Tipp Reiskörner zufügen musste: Sie binden die Feuchtigkeit durch ihre poröse Struktur und fungieren darüber hinaus als Puffer zwischen den Salzkrümeln. Als Nanopartikel gelten Teilchen in Expertenkreisen, wenn sie nicht größer als 100 Nanometer im Durchmesser sind – das ist fast 1000-mal kleiner, als ein menschliches Haar dick ist.

Und es ist gerade die Winzigkeit der Teilchen, die sie für die Lebensmittelindustrie so attraktiv macht: Nanopartikel haben oft völlig andere physikalische und chemische Eigenschaften als größere Teilchen desselben Stoffes. Die Winzlinge können zum Beispiel einen anderen Schmelzpunkt haben, härter oder flexibler sein, Wasser binden oder es abweisen. Mischt man also Partikel mit den passenden Eigenschaften in ein Lebensmittel oder beschichtet es damit, kann man dem Produkt neue Eigenschaften verleihen.

Mit künstlich hergestellten Nanopartikeln will die Lebensmittelindustrie verschiedene Produkteigenschaften verbessern: Die Teilchen sollen – wie bei der Rieselhilfe – die Verarbeitung und Portionierung erleichtern, Speisen und Getränke länger haltbar machen, ihnen einen neuen Geschmack oder neue Konsistenz verleihen oder dafür sorgen, dass Stoffe besser vom Körper aufgenommen werden.

Marktstudien bescheinigen den Lebensmittel-Hilfsstoffen ein großes Wachstumspotenzial: Das britische Beratungsunternehmen Cientifica etwa schätzte ihr weltweites Marktvolumen 2006 auf 100 Millionen US-Dollar und sagte für 2012 einen Markt von 1,5 Milliarden US-Dollar voraus. Zu den synthetischen Nanoteilchen zählen nicht nur solide Partikel wie die Rieselhilfe, sondern auch sogenannte Mizellen. Das Darmstädter Unternehmen Aquanova stellt solche künstlichen, etwa 30 Nanometer großen Hohlkügelchen aus dem organischen Stoff Polysorbat her, in die zum Beispiel empfindliche Vitamine oder unangenehm schmeckende Ergänzungsstoffe wie Omega-3-Fettsäuren verpackt werden können.

Der menschliche Körper kennt solche Transport-Mizellen, die er aus natürlichen Tensiden – etwa Gallensalzen – bildet. Die künstlichen Polysorbat-Mizellen bieten die Möglichkeit, verschiedenste Lebensmittel mit Nährstoffen anzureichern. Zudem schützen sie ihre Fracht während der Verdauung vor der Magensäure. Und schließlich wirken sie, wenn sie unbeschadet im Dünndarm angekommen sind, wie ein Schlüssel, der ihre Fracht durch die Darmwand schleust. Ohne die Hülle wäre der dünne Wasserfilm, der die Darmwand bedeckt, ein unüberwindbares Hindernis für die wasserunlöslichen Vitamine und Fettsäuren. Die Mizellen hingegen gelangen hindurch, weil ihre Außenhaut wasseranziehend ist. Sie docken an der Darmwand an und geben ihren Inhalt frei, der dann von den Darmzellen in die Blutbahn weitergeleitet wird, damit er dorthin transportiert wird, wo sie der Körper benötigt. Auf diese Weise kann laut Aquanova-Chef Dariush Behnam eine viermal größere Menge der Zusatzstoffe ins Blut gelangen als ohne Mizellenschutz. Die effektivere Aufnahme senkt die Produktionskosten der Hersteller, weil kleinere Mengen des Zusatzstoffes einen gleich großen Effekt erzielen.

Für das Ziel, Lebensmittel haltbarer zu machen, muss nicht unbedingt das Produkt selbst Nanopartikel enthalten, die Teilchen können auch in Verpackungsbeschichtungen enthalten sein. Ihre Aufgabe: Die Produkte vor eindringender Feuchtigkeit und Sauerstoff schützen oder, zum Beispiel bei Getränken, das Entweichen von Kohlendioxid verhindern. Damit etwa Bier in Kunststoffflaschen aus Polyethylen (PET) nicht seinen Geschmack verliert, setzen einige Brauereien bei ihren Kunststoffflaschen auf eine dünne Abdichtungsschicht aus Polyamid, die zwischen zwei PET-Schichten eingefügt ist und winzige Tonmineral-Partikel enthält. Diese Plättchen überlappen wie Dachziegel und bilden eine geschlossene Barriere.

Die Möglichkeiten von Nanoteilchen in Lebensmitteln und ihren Verpackungen überzeugen aber nicht alle. Viele Kunden sind verunsichert, weil sie die Gesundheitsrisiken, die von den Teilchen möglicherweise ausgehen, für nicht ausreichend erforscht halten. Laut einer im letzten Jahr durchgeführten Umfrage des Bundesinstituts für Risikobewertung würden 80 Prozent der Verbraucher keine Lebensmittel kaufen, die künstliche Nanopartikel enthalten. Kein Wunder, dass viele Hersteller in Deutschland beteuern, gar keine Nanopartikel einzusetzen. In der Tat lässt sich kaum herausfinden, welche deutschen Lebensmittel die winzigen Teilchen enthalten. "Wegen der fehlenden Meldepflicht sind die Verbraucher auf freiwillige Angaben aus der Industrie angewiesen", klagt Jurek Vengels vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND).

Die Industrie allerdings hält sich bedeckt. Auf Nachfrage dementieren Nahrungsmittelkonzerne wie Mars und Nestlé den Einsatz von Nanopartikeln. Mars hatte zwar in den 1990er- Jahren eine Nano-Schutzschicht aus Titandioxid als Patent angemeldet, die direkt auf die Oberfläche von Schokolade aufgetragen werden sollte, um zu verhindern, dass sie sich mit der Zeit verfärbt. "Wir haben die Technologie aber nie kommerziell eingesetzt", sagt Mars-Sprecherin Gabi Blum. Auch der Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft "Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde" teilt in einem Positionspapier mit, es gebe auf dem europäischen Markt noch keine Lebensmittel mit neuartigen Nanomaterialien.

Und selbst der Hersteller der Rieselhilfe beschwichtigt: "Die Siliziumdioxid-Partikel sind gar keine Nanopartikel, sie sind viel größer", sagt Ulrich Brinkmann, Leiter der Abteilung Anwendungstechnik bei Evonik. Im ersten Schritt des Herstellungsprozesses entstünden zwar Nanopartikel. Diese lagerten sich aber während der Weiterverarbeitung zu größeren Teilchen zusammen, sogenannten Agglomeraten. Selbst die kleinsten unter ihnen seien deutlich größer als 100 Nanometer, und die größten messen bis zu 50000 Nanometer.

Die Größe aber ist zumindest mitentscheidend dafür, wie stark die Partikel von Geweben aufgenommen werden und ob die Teilchen potenziell schädlich wirken können. Versuchsergebnisse mit Ratten hatten bereits in den 1990er-Jahren gezeigt, dass 100 Nanometer große Partikel die Darmwand in größeren Mengen durchdrangen als 500 Nanometer oder sogar einige Mikrometer große Krümel. Neueren Versuchen zufolge können Teilchen, die kleiner als 30 Nanometer sind, sogar in den Zellkern eindringen, der das Erbgut beherbergt.

Es führt also kein Weg an der Risikoforschung vorbei, aber sie dürfte ziemlich aufwendig werden. Wegen der Unterschiedlichkeit der Nanopartikel und ihrer Einsatzorte muss jede Anwendung individuell untersucht werden. So kann man Experten zufolge zum Beispiel nicht von einer einheitlichen Wirkung aller Nanopartikel-Sorten ausgehen: Neben der Größe spielen auch physikalische und chemische Eigenschaften der Teilchen eine Rolle bei der Frage, wie sie wirken. Folglich verhalten sich nicht alle 30 Nanometer großen Partikel gleich.

Darüber hinaus ist es nicht egal, in welchen biologischen Systemen die Teilchen getestet werden – es sollte immer derjenige Weg untersucht werden, auf dem sie in den Körper gelangen. Experimente, in denen zum Beispiel Versuchstieren Nanopartikel in großen Mengen direkt ins Blut gespritzt werden, obwohl sie tatsächlich durch die Darmwand in die Blutbahn gelangen, liefern wenig aussagekräftige Ergebnisse.

Im Sommer 2009 wurden die Ergebnisse des deutschen Risikoforschungsprojekts "NanoCare" vorgestellt, die auch für Lebensmittel relevant sind. Darin hatten Wissenschaftler zum Beispiel berichtet, dass Nanopartikel-Agglomerate keineswegs so stabil sind wie gedacht, sondern in Körperflüssigkeiten wie zum Beispiel Blut wieder in ihre Bestandteile zerfallen können. Verantwortlich für diese Wirkung sind offenbar Proteine, die sich zwischen die Partikel drängen. Das bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass mit der Nahrung aufgenommene Agglomerate wie die Salz-Rieselhilfe aus Siliziumdioxid im menschlichen Darm auf ähnliche Weise zerfallen, es zeigt aber, dass dies untersucht werden sollte.

Für eine einheitliche Risikoforschung müsste allerdings erst einmal Einigung darüber erzielt werden, welche Teilchen tatsächlich als Nanopartikel gelten. Bislang fassen Industrie, Regulierungsbehörden und Verbraucherschützer die Definition je nach Interesse unterschiedlich weit, sagt Ralf Greiner vom Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe. Die auf ihr Image bedachte Lebensmittelbranche betrachtet die Größengrenze von 100 Nanometern als fest, um zum Beispiel 200 Nanometer kleine Transportkapseln nicht zugeben zu müssen. Für die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit zeichnet sich ein Nanopartikel dagegen unabhängig von seiner exakten Größe durch neue Eigenschaften aus, die größere Partikel der gleichen Substanz nicht haben.

Als Ausweg aus dem Definitions-Hickhack schlägt der Toxikologe Rolf Hertel vom Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin vor: "Die Definition muss so formuliert werden, dass sie alle Nanopartikel erfasst, von denen eine nachgewiesene Gefahr ausgeht." Ansonsten drohe eine Deklarierungsflut. "Man muss verhindern, dass etwa die beim Homogenisieren von Milch entstehenden nanometergroßen Fetttröpfchen als künstliche Nanopartikel deklariert werden müssen", sagt Hertel.

Von 2012 an sollen nämlich nach Plänen des EU-Parlaments Nanobestandteile in Lebensmitteln gekennzeichnet werden, wie der Umweltverband BUND und die Verbraucherzentralen schon seit Jahren gefordert hatten. Bis dahin müssen Experten zufolge allerdings noch leistungsfähigere Nachweismethoden entwickelt werden, als sie derzeit existieren, damit die Kennzeichnungspflicht auch kontrolliert werden kann. Denn Nanopartikel las-sen sich derzeit kaum nachweisen, weil sie meist in Trägerstoffe eingebettet sind. Und selbst wenn man sie aufspüren kann, ist es schwer, ihre Größe und andere Eigenschaften zwecks Identifizierung festzustellen. Doch immerhin wissen die Wissenschaftler bereits, welche optischen Methoden sie dafür weiterentwickeln wollen – zum Beispiel die Elektronenmikroskopie und die Laserbeugung, bei denen Proben und Partikel mit Elektronen und Laserstrahlen abgetastet werden. (bsc)